Die Jurybegründung von Claas Tatje (ZEIT-Redaktion) zum Siegertext “Digitale und reale Freundschaft” von Emma Röttger:
“Wenn die Reportage die Königsdisziplin des Journalismus ist, dann ist die Ich-Reportage deren Krönung. Mit anderen Worten: Emma Röttger hat sich viel vorgenommen, als sie ihre digitale Freundschaft zu einer anfangs unbekannten Hannoveranerin beschreibt. Erstaunlich ist, mit welcher Geradlinigkeit sie ihre eigene Unbedarftheit thematisiert: „Man hatte ja auch keine Konsequenzen zu fürchten, da nach wie vor ein Bildschirm uns trennte.“ Zugleich findet sie einen Ton, der den jungen Lesern klarmacht, dass Nachahmung nur bedingt zu empfehlen ist. So schreibt Röttger: „Meine Mutter bestand darauf, mich“ zum ersten Treffen „zu fahren, damit ich immerhin während der Anfahrt keinem Risiko ausgesetzt war.“
Ihre nüchterne, distanzierte Schreibe, garniert mit Umfrageergebnissen und Dudenzitaten, sorgt für die richtige Mischung aus Selbstbeschreibung, die – und das ist auch eine Kunst von ihr, nie zur Selbstverliebtheit führt – das Thema auch all jenen öffnet, für die Instagram bisher eine verschlossene Auster war.
Auch sie selbst zögert, sich zu öffnen und beschreibt das eindrücklich: „Auch als ich damals im April 2017 meine beste Freundin auf einer Kunst-Seite kennenlernte, stellte ich mir anfänglich die Frage, was ich tatsächlich von mir preisgeben kann und was nicht.“
Große Fragen sind das, deren Antwort in einer wunderbaren Freundschaft mündet, deren Vielfalt am Ende des Artikels nicht mit einer müden Aufzählung beschrieben wird, sondern mit Bedacht durchdekliniert wird. Ihre neue Freundin, das ist „Ein Mädchen, mit welchem ich gezeltet, die Herrenhäuser Gärten erkundet und an einem Sommerabend zusammen UNO gespielt oder auf Strohballen den Sonnenuntergang beobachtet habe; ein Mädchen, welches einen unersetzlichen Platz in meinem Herzen gewonnen hat.“ Emma Röttger hat damit zugleich die Herzen der Jury erobert. Herzlichen Glückwunsch!”
Textauszug aus “Digitale und reale Freundschaft” von Emma Röttger:
“Am 10.9.2017 traf ich das erste Mal meine Internet-Freundin. Obwohl mein Herz bis zum Hals schlug, war alles schnell wie verflogen. Auf einmal stand sie in Person vor mir. Das Gesicht, was ich eigentlich über Monate hinweg jeden Tag gesehen hatte, wirkte für mich mit einem Male anders. Ich sah ein Mädchen, welches ich jeden Tag- und zugleich noch nie gesehen hatte.
Unglaublicher Realitätsverlust meinerseits war die Folge, mit dessen Ausmaß ich mich erst noch anfreunden musste. Die paar Stunden, die wir zu allererst zusammen verbrachten, vergingen genauso schnell wie sie gekommen waren. Zuhause angekommen, lag ich verwirrt und überwältigt in meinem Zimmer. Ich konnte nicht fassen, dass es möglich war eine komplett wahllose Person irgendwo im Internet anzuschreiben und dann mit derselben Person Pizza essen gehen zu können. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf” (Aus: Die Ellipse, Schülerzeitung des Johannes-Kepler-Gymnasiums, Januar 2019, S. 30-35)