Vom Wellenreiten und Wogenglätten
Ein Essay zur ersten Präsenz-Lehrerfortbildung nach dem Lockdown
von Sonja Krenmayr
Wir sitzen in einem Seminarraum in Steinhude am Meer. Draußen ist es heiter bis wolkig, im nächsten Moment stürmisch, dann wieder ruhig. Drinnen beginnt ein freundlich-vorsichtiges Beschnuppern, erschwert durch das Tragen der Mund-Nasen-Maske und erleichtert durch ein sehr variables Einhalten des Einskommafünf-Meter-Abstandes. Auch hier setzt sich anfänglich die Unsicherheit fort, die wir seit März in unserem beruflichen wie privaten Alltag erleben. Kein Wunder, ist doch jedes Gegenüber ein potenzieller Träger eines Virus, von dem wir in den letzten Monaten so viel gehört, gelesen und gesehen haben.
Es ist die erste niedersächsische Lehrerfortbildung, die seit dem Lockdown wieder als Präsenzveranstaltung stattfindet. Thema ist die Corona-Krise und das Ziel, unseren Schülerinnen beizubringen, wie Journalisten arbeiten und wie guter Journalismus sich von schlechten Socialmedia-Beiträgen unterscheidet.
Den sportlichen Arbeitsplan für die zwei Tage untersuche ich auf mögliche Erleichterungen.
Drei Interviews mit gestandenen Journalisten und einer Pressesprecherin der niedersächsischen Landesregierung klingen spannend und herausfordernd; dass wir schon am nächsten Nachmittag einen Text mit maximal 7000 Zeichen fertigstellen und bewerten lassen sollen, kratzt allerdings so sehr an meiner Grenze zur Überforderung, dass sich Widerstand aufbaut. Lerntechnisch weiß ich, negativer Stress ist überhaupt nicht gut, und suche sofort nach Lösungen. Der endgültige Abgabetermin ist erst in einer Woche; ich bin beruhigt und freue mich auf die nächsten Stunden.
Erleichternd ist auch, dass wir gar nicht alle ein Interview vorbereiten, führen, transkribieren und verfassen sollen, sondern jeder die journalistische Textform wählen kann, die er oder sie möchte. Jörg Sadrozinski wirkt wie ein Fels in der Brandung und stellt die einzelnen Textformen kurz vor.
Meinung mag ich, Meinung mach ich – also entscheide ich mich für den Kommentar. Die Überschrift habe ich sofort im Kopf, aber keine Idee, was ich genau schreiben soll. Ich beschließe, auf den Prozess zu vertrauen.
Unser erstes Interview führen wir digital mit Cordt Schnibben, der sehr schnell ein Buch zum Thema Corona herausgegeben hat. Cordt ist ein erfahrener, gut strukturierter und kluger Kopf, der uns einen Einblick gibt, wie sich Journalismus heute gestaltet. Er betont, dass Teamworking und Vernetzung ein wichtiger Bestandteil und Journalisten immer mehr zu Generalisten geworden sind – eine Übereinstimmung zum Lehrberuf.
Ein Ausspruch bleibt bei mir hängen: Auf Corona müsse man hysterisch reagieren. Man könne gar nicht anders. Ich finde das spannend, da er so gar nicht hysterisch wirkt. Seit drei Tagen hat Cordt Covid19-Symptome und wirkt wie die Ruhe selbst. Andererseits finde ich es gut, dass er dem Überwelltigtseinvieler Menscheneine Berechtigung zuspricht.
In Vorbereitung auf das nächste Interview mit Imre Grimm, einem Journalisten, der Mitte März eine Podcastreihe zum Thema Corona startete, höre ich mir die Folge mit dem Altkanzler Gerhard Schröder an. In dem Interview wird der damalige Medienkanzler zum digitalen Wellenreiter, der sich als podcastender Opa der Nation gibt, sich als Marke „Schröder“ verkauft und neben dem Aufsichtsratsvorsitz von Rosneft noch eine „rein zwischenmenschliche“ Freundschaft zum russischen Diktator pflegt.
Mir fehlen Nachfragen in diesem Heidschi-Bumbeidschi-Interview und sehe in der Folge ein Corona-Wiegenlied, das die Wogen um den umstrittenen Ex-Politiker eher glättet als klärt.
Bei Grimm bin ich erst einmal abwartend. Ganz am Schluss frage ich nach der Vierten Gewalt und bekomme eine überraschende Antwort: Journalismus könne auch gewalttätig sein. Und obwohl ich Grimm zustimme, bin ich über diese defensive Haltung erstaunt. Ist das der Grund, warum er Schröder eine Plattform für seine Wogenglätterei gegeben hat?
Die Vierte Gewalt bedeutet eine von der Gesellschaft gewollte Stärke und Teilhabe an der Macht, um die anderen drei Gewalten und vor allem die inoffizielle Fünfte Gewalt, den – zum Beispiel von Schröder betriebenen – Lobbyismus, in Schach zu halten, aufzudecken, zu beurteilen und zu bewerten.
Und schon am nächsten Morgen haben wir die Möglichkeit mit einer anderen Gewaltenvertreterin zu sprechen, Anke Pörksen, Pressesprecherin der Landesregierung in Hannover. Ich bereite meine Fragen sehr konzentriert vor und freue mich über diese Möglichkeit. In meinen Unterricht baue ich immer wieder sogenannte Expertengespräche ein, zu denen ich oft politische Vertreterinnen einlade oder außerhalb der Schule mit meinen Schülern besuche.
Energetisch, freundlich, zuversichtlich und mit einer für das Thema angemessenen Ernsthaftigkeit beantwortet Pörksen unsere Fragen. Auch hier wird das Bild von der überwältigenden Welle gezeichnet, auf die man aber bis auf wenige Ausnahmen angemessen und zeitnah reagiert hätte und der man auch in Zukunft souverän begegnen wird.
Einige Unstimmigkeiten lasse ich während des Interviews unkommentiert und erkenne jetzt beim Schreiben bestürzt, dass es mindestens weitere 7000 Zeichen brauchen würde, um das adäquat zu diskutieren.
Aber glücklicherweise gibt es auch beim journalistischen Kommentar noch unterschiedliche Formen, von der mir Jörg eine vorenthalten wollte: der „`Geradeheraus-Kommentar´, der `je nach Anlass, Thema (und Temperament des Autors) … auch einmal aufs Argumentieren´ (ebd.) verzichtet und schlichtweg begeistert lobt oder verärgert schimpft.“
Dann lege ich mal los:
Bei allem Leid und zum Teil noch nicht absehbaren Folgen der Pandemie und der beschlossenen und durchgesetzten Maßnahmen ist Corona auch eine Chance, da die Krise die Probleme unserer Gesellschaft aufdeckt: Armut, psychische und physische Gewalt in Familien, Bildung, Diskriminierung, um nur einige zu nennen. Ob betroffen oder nicht, viele Menschen nehmen sich gerade die Zeit und schauen genauer hin, hören aufmerksamer zu und mischen sich ein.
Die enge Verwobenheit von Wirtschaft und Politik wird vielen bewusster und stellt uns alle vor die erschütternde Frage: „Wie viel ist uns ein Menschenleben wert?“
Immer wieder kommt mir das Werbeplakat des drittgrößten deutschen Süßwarenherstellers in den Sinn. Ein pinkes Bekenntnis an unsere Grundwerte: das Gesicht einer Frau in hohem Alter mit dem kurzen Hinweis, dass jedesLeben wertvoll sei.
Und ein Grünenpolitiker, der sich nicht scheut zu sagen: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“
Mancher Wellengang verursacht Übelkeit.
Der erste Block der Weiterbildung geht schneller zu Ende als gedacht. Keiner weiß, wie es nach den Sommerferien in der Schule oder auch mit der nächsten Blockveranstaltung weitergehen soll.
Zum Abschluss wirft eine Teilnehmerin ein optimistisches „Warten wir ab!“ in die Runde – und obwohl warten gar nicht so meins ist, ist es genau das, was ich während Corona lerne.
Zur Person
Sonja Krenmayr unterrichtet Politik, Geschichte, Erdkunde und Wirtschaft an der Wolfsburger Oberschule.
Wichtig ist ihr besonders im Politikunterricht, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe zu erkennen und umzusetzen.