von Prof. Marcus Bölz

Lesen gilt als Schlüssel zur Welt – doch viele Türen bleiben verschlossen, weil der Schlüssel nicht passt. Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen, obwohl sie jahrelang zur Schule gegangen sind. Der Deutschunterricht hält sich derweil an Goethe und Grammatik, während die Lebensrealität der Schüler:innen draußen vor der Klassenzimmertür bleibt. Dabei läge die Lösung so nah: Fußball, Journalismus und digitale Medien könnten Brücken bauen, wo Bücher eher Mauern errichten.
Sprache ist das Fundament unseres Denkens. Sie strukturiert unsere Wahrnehmung, formt unsere Gedanken und ermöglicht es uns, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu gestalten. Schreiben – als dauerhafte, reflektierte Form von Sprache – ist dabei eines der mächtigsten Werkzeuge, das der Mensch hervorgebracht hat. Es erlaubt uns, Wissen zu speichern, Argumente zu entwickeln, Geschichten zu erzählen und Gesellschaft zu organisieren. Wer schreiben kann, kann denken. Wer lesen kann, kann verstehen. Wer beides nicht kann, bleibt ausgeschlossen – aus Diskursen, aus Bildung, aus Teilhabe.
Die kognitionspsychologische Forschung zeigt, dass Sprache und Denken untrennbar miteinander verbunden sind. Lev Vygotsky sprach von der „inneren Sprache“ als einem Werkzeug des Denkens. Jean Piaget betonte, dass sprachliche Entwicklung die kognitive Entwicklung des Kindes begleitet und strukturiert. Schreiben zwingt zur Präzision, zur Reflexion, zur Ordnung. Es ist ein intellektueller Kraftakt – und zugleich ein kultureller Akt. Lesen wiederum ist der Zugang zu dieser Welt des Schreibens. Doch dieser Zugang ist nicht selbstverständlich. Er muss erlernt, geübt, gewollt sein. Und genau hier beginnt das Problem: Die Lesemotivation ist in vielen Teilen der Gesellschaft erschreckend gering – und das nicht aus Faulheit, sondern aus strukturellen Gründen.
Die Lesemotivationsforschung zeigt klar: Menschen lesen, wenn sie einen Sinn darin sehen. Wenn Texte an ihre Lebenswelt anschließen, wenn sie emotional berühren, wenn sie verständlich sind. Fußballjournalismus erfüllt all diese Kriterien. Er ist aktuell, emotional, identitätsstiftend. Jugendliche, die sich sonst kaum für Texte interessieren, lesen mit Begeisterung Spielberichte, Interviews oder Transfergerüchte – oft sogar in mehreren Medienformaten. Der Medienpädagoge Stefan Aufenanger bringt es auf den Punkt: „Wer einmal merkt, dass Lesen Spaß machen kann, wird auch eher bereit sein, sich mit komplexeren Texten auseinanderzusetzen.“
Diese Texte sind keine „niedrigschwellige Ablenkung“, sondern ein Einstieg in die Welt der Schrift. Sie bieten Anschlussfähigkeit, sie schaffen Lesebiografien. Und sie zeigen: Lesemotivation ist kein pädagogischer Zaubertrick, sondern eine Frage der Relevanz.
Lesen ist nicht nur Technik, sondern Kultur. Die Lesesozialisationsforschung beschreibt Lesen als sozialen Prozess, der durch Familie, Schule und Medien geprägt wird. Simone C. Ehmig von der Stiftung Lesen spricht von einem „lebenslangen Prozess, in dem Menschen durch familiäre, schulische und mediale Einflüsse zu Leserinnen und Lesern werden – oder eben nicht“. Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem Lesen keine Rolle spielt, wird kaum aus eigenem Antrieb zur Leseratte. Wer in der Schule nur mit Texten konfrontiert wird, die weit entfernt von der eigenen Lebensrealität sind, wird Lesen als Zumutung empfinden.
Der Soziologe Sven Nickel beschreibt Schrift als „ein Mittel der Herrschaft“. Wer nicht lesen kann, ist ausgeschlossen – aus Verträgen, aus Behördenkommunikation, aus politischer Teilhabe. Funktionaler Analphabetismus ist daher nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches.
Trotz Schulpflicht gelten in Deutschland rund 6,2 bis 7,5 Millionen Erwachsene als funktionale Analphabet:innen. Sie können einzelne Wörter lesen, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen. Über die Hälfte dieser Menschen hat Deutsch als Erstsprache. Der ehemalige Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung, Peter Hubertus, bringt es auf den Punkt: „Analphabetismus ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem unserer Gesellschaft.“
Die Ursachen sind vielfältig: mangelnde Förderung im Elternhaus, negative Schulerfahrungen, ein Bildungssystem, das zu wenig auf individuelle Lernbiografien eingeht. Viele Betroffene berichten, dass sie in der Schule „durchgerutscht“ seien, ohne je wirklich lesen gelernt zu haben. Der ehemalige Fußballprofi Ansgar Brinkmann sagte: „Ich habe mich oft geschämt. Aber ich wusste auch: Ich bin nicht dumm – ich hatte nur nie die richtigen Bedingungen.“
Der schulische Deutschunterricht ist nach wie vor stark auf klassische Literatur fixiert. Für viele Jugendliche – insbesondere jene mit geringen Lesekompetenzen – stellt dies eine Barriere dar. Die Sprache klassischer Werke ist oft weit entfernt von der Lebenswelt der Jugendlichen. Für lernschwache Schüler:innen oder solche mit negativen Schulerfahrungen kann dies demotivierend wirken. Simone C. Ehmig fordert daher eine Öffnung des Unterrichts hin zu einer pluralen Textkultur: „Texte aus dem Alltag – etwa aus dem Journalismus – können helfen, die Lesemotivation zu steigern und Brücken zu bauen, wo klassische Literatur abschreckt.“
Dabei muss eines klar sein: Die ästhetischen Präferenzen der Lehrkräfte dürfen nicht der Maßstab sein. Es geht nicht darum, ob ein Text „literarisch wertvoll“ ist, sondern ob er Anschluss bietet. Wer Fußballtexte, Rap-Lyrics oder Instagram-Posts pauschal abwertet, weil sie nicht dem eigenen Geschmack entsprechen, verkennt die pädagogische Aufgabe. Es geht nicht um Kanonpflege, sondern um Bildungsgerechtigkeit.
Journalismus ist ein kultureller Prozess. Er strukturiert Diskurse, schafft Öffentlichkeit, formt Identitäten. Jugendliche wachsen heute in einer Medienwelt auf, in der sie täglich mit journalistischen Formaten in Kontakt kommen – über YouTube, TikTok, Instagram oder klassische Nachrichtenportale. Die Mediennutzung ist hoch, die Textformate vielfältig, die Themen emotional aufgeladen.
Doch während Jugendliche längst in einer hybriden Medienrealität leben, bleibt der schulische Umgang mit Journalismus oft oberflächlich oder moralisch aufgeladen. Wo Medienkompetenz gefragt wäre, begegnen viele Lehrkräfte diesen Formaten mit Skepsis. Statt sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man etwa Sportberichterstattung oder Influencer-Kommunikation didaktisch nutzen kann, wird häufig über „Verflachung“ geklagt.
Diese Haltung ist ein Ergebnis der Lehrerbildung, die journalistische Formate kaum thematisiert. Im Studium dominieren literaturwissenschaftliche Inhalte, im Referendariat stehen Prüfungsformate im Vordergrund. Die Frage, wie man mit Schüler:innen über journalistische Texte spricht, bleibt oft unbeantwortet. Man hat gelernt, wie man Gedichte interpretiert – aber nicht, wie man mit einer Klasse über einen Instagram-Post eines Fußballers spricht, der Millionen Jugendliche erreicht.
Viele Lehrer:innen tun sich schwer damit, die Lebenswirklichkeiten ihrer Schüler:innen nachzuvollziehen – insbesondere, wenn diese aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus stammen. Diese Distanz ist nicht Ausdruck von Desinteresse, sondern das Ergebnis einer unzureichenden Ausbildung. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann fordert deshalb eine Reform der Lehrerbildung: „Wer Kinder und Jugendliche zum Lesen motivieren will, muss ihre Lebenswelt kennen – und ernst nehmen.“
Die Lesemotivations- und Lesesozialisationsforschung zeigt deutlich: Wer Menschen zum Lesen motivieren will, muss bei ihren Interessen und Lebenswelten ansetzen. Fußballjournalismus bietet hier ein enormes Potenzial, das bislang im Bildungssystem weitgehend ungenutzt bleibt. Gleichzeitig muss der Deutschunterricht sich öffnen – weg von der ausschließlichen Fixierung auf klassische Literatur, hin zu einer pluralen Textkultur, die auch journalistische Formate, digitale Medien und populäre Inhalte umfasst. Und: Die ästhetischen Vorlieben der Lehrkräfte dürfen dabei keine Rolle spielen. Bildung ist kein Geschmackskanon, sondern ein Menschenrecht.
Ein zentrales Hindernis für eine zeitgemäße Leseförderung liegt im tief verankerten normativen Kulturverständnis vieler Bildungsinstitutionen. Dieses Verständnis geht davon aus, dass es eine „höhere“ Kultur gibt – klassisch, kanonisch, literarisch – und dass Bildung vor allem darin besteht, sich dieser Kultur anzunähern. Wer Goethe liest, gilt als gebildet. Wer den „Kicker“ liest, als nicht ganz so. Diese Hierarchisierung von Kultur ist nicht nur elitär, sondern auch ausgrenzend. Sie ignoriert, dass kulturelle Praktiken immer kontextabhängig sind – und dass auch populäre Texte komplexe, bedeutungsvolle und bildungsrelevante Inhalte transportieren können.
Ein normatives Kulturverständnis führt dazu, dass Texte nicht danach bewertet werden, ob sie Anschluss an die Lebenswelt der Lernenden bieten, sondern ob sie einem tradierten Ideal entsprechen. Das Ergebnis: Schüler:innen, die sich nicht für klassische Literatur begeistern können, gelten als „bildungsfern“, obwohl sie sehr wohl über kulturelle Kompetenzen verfügen – nur eben in anderen Ausdrucksformen. Diese Sichtweise reproduziert soziale Ungleichheit, statt sie zu überwinden.
Demgegenüber steht ein anthropologisches Bildungsverständnis, das nicht fragt, was gelernt wird, sondern wie Bildung zur Entfaltung des Menschseins beiträgt. Es geht nicht um die Aneignung eines Kanons, sondern um die Entwicklung von Selbstbestimmung, Urteilskraft und Teilhabe. In diesem Verständnis ist Bildung kein Besitz, sondern ein Prozess – offen, dialogisch, biografisch.
Ein solcher Bildungsbegriff erkennt an, dass Menschen unterschiedliche Wege zur Sprache, zum Denken und zur Welt haben. Er fragt nicht, ob ein Text „hochwertig“ ist, sondern ob er Resonanz erzeugt. Fußballjournalismus, Rap-Texte, Social-Media-Kommentare – all das kann Ausgangspunkt für Bildungsprozesse sein, wenn man sie ernst nimmt. Ein anthropologisches Bildungsverständnis würde nicht versuchen, Schüler:innen in ein kulturelles oder moralisches Raster zu pressen, sondern ihnen helfen, ihre eigenen Ausdrucksformen zu reflektieren, zu erweitern und mit anderen in Beziehung zu setzen.
Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit: Montags Morgens stand in der Unterstufe des Wagenburg-Gymnasiums immer eine Doppelstunde Mathematik an. Und Schüler Marcus Bölz saß mit seinem Nebensitzer Denis Finkbeiner immer etwas unsortiert nach dem Bundesligawochenende vor dem Thaleskreis und dem Satz des Phytagoras. Also haben wir immer den Kicker gelesen. Denis den Innenteil, ich den Hauptteil. Und irgendwann gewechselt. Der Lehrer, ein erfahrener Pädagoge namens Norman Huck, kam irgendwann zu uns, setze sich locker an den Tisch, schaute mich an und meinte: Ob ich mir denn für mein Leben sicher wäre, dass die Lektüre des Kickers relevanter wäre als der Thaleskreis? „Ich weiß es doch nicht, Herr Huck. Ich kann doch nicht in die Zukunft schauen“ entgegnete ich ihm in meiner Elfjährigkeit. Er hatte die Größe nicht über mich zu richten. „Na dann werden wir ja irgendwann sehen.“ Vielleicht hätte ich ja recht. Und Tatsache, heute kann ich sagen: Die Lektüre des Kickers war für mich beruflich wirklich sinnvoller als das Wissen über den Thaleskreis. Dass Norman Huck aber die Größe hatte, mit Distanz seinen eigenen Lehrinhalten zu begegnen und die intrinsische Motivation der Schüler über seinen Lernstoff zu setzen, zeugt von menschlicher Größe.
In der Praxis ist deshalb meine Forderung: weniger Kanon, mehr Kontext. Weniger Bewertung, mehr Begegnung. Und vor allem: mehr Vertrauen in die Fähigkeit junger Menschen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen – wenn man sie denn lässt.
Man könnte meinen, ein Bildungssystem, das Millionen Menschen nicht beibringt, wie man einen Fahrplan liest, aber dafür weiß, was ein Jambus ist, habe seine Prioritäten nicht ganz sortiert. Vielleicht wäre es an der Zeit, weniger über Goethe zu dozieren und mehr darüber nachzudenken, warum Schüler lieber den Kicker lesen als Effi Briest. Vielleicht ist das gar kein Bildungsnotstand, sondern ein Hoffnungsschimmer. Denn wer liest, was ihn interessiert, hat schon mehr verstanden als mancher, der auswendig weiß, wann Schiller geboren wurde, aber nie begriffen hat, warum Sprache eine Brücke ist – und keine Schranke. Also: Kickerabos für die Horte in den Schulen und Effi Briest gemeinsam ist das Motto. Denn Rhetorik ist Rock’n’Roll. Sprache ist Stil. Und Stil ist Haltung. Alles andere ist Behördenfunk.