Wissenschaft, WebEx und Windeln in der Corona-Krise
Von Kathrin Bialas
Die Corona-Krise trifft uns alle überraschend. Am 12. März diskutieren wir im Politikunterricht noch kontrovers über die Absage von Großveranstaltungen, am Freitag, dem 13. (wie passend), verkündet Herr Tonne die Schulschließungen und am 16. sitzen wir alle zu Hause. Und mit „alle“ meine ich auch meine 2-jährige Tochter, die fortan nicht mehr von den Tageseltern betreut werden darf.
Spagat zwischen Unterricht, Haushalt und Kind
In den Osterferien fühlt sich das noch nicht sonderlich ungewöhnlich an, auch wenn die äußeren Umstände mit Kontaktbeschränkung, Hamsterkäufen und Spielplatzverbot bedrückend sind. Als dann der Online-Unterricht ab dem 20. April startet, beginnt für mich – wie für viele andere auch – ein schwieriger Spagat zwischen Unterricht, Haushalt und Kinderbetreuung.
Das „Lernen zu Hause“ per IServ-Aufgaben, man bedenke die geringe Vorbereitungszeit, gelingt verhältnismäßig gut und auch die Schülerergebnisse sind meist besser als im Präsenzunterricht. Vielleicht tut es einigen gut, die Aufgaben in ihrem Tempo, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit zu bearbeiten. In den täglichen WebEx-Konferenzen trudeln die Schüler nahezu pünktlich auf meinem Bildschirm ein, begrüßen mich mehr oder weniger freundlich (gääähn), melden sich pflichtbewusst über den Meldebutton und beantworten Fragen. Zum Thema „Kaufverträge“ lasse ich meine Berufsschüler fiktiv einen telefonischen Kfz-Kauf durchführen und die Elftklässler erläutern ihre digital erstellten Schaubilder zur Figurenkonstellation bei Emilia Galotti.
Einziges Problem: Meine Tochter mussschlafen, wenn meine täglichen Online-Meetings stattfinden, die ich extra auf ihre Mittagsschlafzeit gelegt habe. Dass das nicht immer funktioniert, ist sicherlich nachvollziehbar. Und so sitzt mein Kind mit voller Windel und munter auf die Tastatur einschlagend auf meinem Schoß, während ich am PC vor der Webcam mit zwanzig Schülern eine kritische Reflexion über die Herrschaftsrealität Ottos des Großen am Beispiel des Doku-Dramas „Die Deutschen“ abhalte. „Was hat der da?“ und „Wer ist das?“ sind noch die dezentesten Fragen. Sämtliche eingereichten Hausaufgaben korrigiere ich abends und nachts, wenn die Tochter schläft. Der gesunde Schlaf meines Kindes spielt also für die Organisation des Homeschoolings eine entscheidende Rolle.
Dafür muss ich sie tagsüber bestmöglich auspowern. Dass der Haushalt auf der Strecke bleibt, versteht sich von selbst und zu unserem immer wiederkehrenden Lieblingsessen entwickeln sich Nudeln mit Pesto, Spinat mit Kartoffelbrei und Milchreis – alles, was schnell geht!
In diesen insgesamt fünf Wochen, bis der Präsenzunterricht nach und nach anläuft, lerne ich meine Tochter noch viel intensiver kennen und fokussiere mich wegen intellektueller Unterforderung stark auf die Entwicklung meines Kindes, die ich unbewusst ständig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abgleiche. Mir fehlen eben der Fachunterricht und vor allem die Diskussionen mit Schülern, Kollegen, Freunden, Familie und mit meinem Mann, der im systemrelevanten Job voll eingebunden ist.
Psychosexuelle Entwicklung und linguistische Prinzipien
Ein spitzer Schrei lässt mich nachts hochschrecken. Schlaftrunken wandele ich über den dunklen Flur ins Zimmer meiner Tochter. Heulend sitzt sie in ihrem Bett, deutet auf ihre Bettdecke und guckt mich mit tränenunterlaufenen großen braunen Augen an. Ich fahre intuitiv mit dem Finger durch die braune Masse auf der Decke, rieche daran und frage mich: „Was macht die Bolognesesoße auf der Bettdecke?“ Langsam dämmert es mir, und als meine Tochter dann auch noch auf ihre volle Windel verweist, wird mir klar, dass sie nun in die anale Phase übergegangen ist. Übrigens das Fremdschäm-Thema für meine Oberstufenschüler, die hinter ihren Tischen versunken waren, als wir im Deutschunterricht zu „Literatur und Sprache um 1900“ sämtliche Phasen der psychosexuellen Entwicklung nach Freud besprochen hatten.
Ihre orale Phase hat meine Tochter somit (hoffentlich) hinter sich gebracht, denn das Resultat des Lustgewinns dieser primitivsten Entwicklungsstufe ist eine Halbglatze: Monatelang hat sie sich ihre Haare ausgerissen, um diese danach in den Mund zu stecken. Der Kinderarzt reagierte gelassen mit der Begründung, viele Kinder täten so etwas aus Langeweile oder zur Stressbewältigung und sie selbst erwiderte auf die Frage, ob sie eine Glatze haben wolle, lediglich „Ja!“.
Aber auch linguistische Prinzipien lassen sich anhand einer 2-Jährigen untersuchen. Meine Tochter nutzt beispielsweise eine sehr metaphorische Sprache. So freut sie sich über ihr „Bett ohne Rinde“ und zieht eine interessante Parallele zwischen harten Begrenzungen bei Brot und Bett. Lautdopplungen erleichtern ihr die Aussprache: Sie hat etwas richtig „mamacht“ oder einen „Jojort“ gegessen. Laterallaute wie [l] sind einfacher zu realisieren als Plosivlaute wie [d], was man beim Schoko-„Pulling“ bemerkt, und zusammengesetzte Nomen bildet sie einfach so, wie es ihr assoziativ passt, ihre Käsemauken nennt sie „Füssemolke“.
Entschleunigung, Eis und Einkaufsverhalten
Sie merken, im Lockdown fehlt mir die kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen. Nur in wenigen freien Momenten kann ich über meist nicht sonderlich „systemrelevante“ Begebenheiten nachdenken. Den Rest des Tages verbringe ich mit ausgiebigen Spaziergängen mit meiner Tochter, wobei zuvor darüber diskutiert wird, ob nun das Laufrad, der Roller oder der Bobby Scooter mitdarf und ob die Puppe im Puppenwagen ihre Mütze tragen sollte oder nicht. Da nun alle ständig zu Hause sind und es die Menschen bei schönstem Wetter nach draußen zieht, komme ich viel intensiver als zuvor (natürlich unter Einhaltung des Mindestabstands) mit sämtlichen Nachbarn ins Gespräch. Die Tage sind entschleunigt und aus Solidarität zu meiner Tochter esse ich nahezu jeden Tag ein „Regenbogen“-Eis mit; die perfekte Erfindung für mich als unentschiedenen Eiskonsumenten, da man von jeder Sorte ein bisschen bekommt und noch besser für Vera, unsere Eisverkäuferin, die so täglich sämtliche bunte Eisreste loswird.
Mein Einkaufsverhalten ändert sich komplett. Vor der Corona-Zeit habe ich mehrmals pro Woche wenige Dinge nach spontanem Bedarf gekauft; seitdem das Einkaufen nur mit Wagen und Maske möglich ist, plane ich wochenweise und kaufe alles auf einmal ein. Besonders mit nörgelndem Kind im Einkaufswagen (die Wörter „Corona“ und „Mundschutz“ sind schon längst im Vokabular abgespeichert), bin ich spätestens nach fünf Minuten im Laden durchgeschwitzt und mit Maske sowieso nicht Herr meiner ohnehin schwindenden geistigen Kräfte. An dieser Stelle ein besonderer Respekt an alle Zahnarzthelferinnen und andere Berufsgruppen, die schon vor und nicht erst seit Corona tagtäglich unter solchen Bedingungen arbeiten!
Ohnehin frage ich mich, was es eigentlich mit einem 2-jährigen Kind in der prägendsten Entwicklungsphase macht, wenn es lernt, um jeden Preis Abstand zu halten, niemanden anzufassen oder zu umarmen und lauter Menschen mit Masken und Latexhandschuhen begegnet … Was hätte Freud wohl dazu gesagt?
Zur Person
Kathrin Bialas unterrichtet Deutsch, Geschichte und Politik an der BBS 2 in Wolfsburg. Sie ist Teamleiterin für das Fach Deutsch und organisiert den jährlichen schulinternen Poetry Slam.